Sächsische Zeitung | 08. Nov. 2016

„Man flennt auch mal als Mann“

Sven Herchenbach trainiert beim 1. FFC Fortuna gleich zwei Teams. Dabei wütet der Krebs im Körper des 50-Jährigen.

Von Alexander Hiller

Frauenfußball erfährt in der öffentlichen Wahrnehmung nicht viel Aufmerksamkeit. Nicht wichtig genug, ließe sich vermuten. Für Sven Herchenbach ist er alles. Überlebenswichtig. Der 50-Jährige, nach außen hin ein Bär von einem Kerl, coacht beim 1. FFC Fortuna Dresden gleich zwei Mädchen-Teams. Im vierten Jahr die C- und seit Oktober auch die B-Juniorinnen.

In Herchenbach lodert nicht nur die Fußballleidenschaft. Dort wuchert auch der Krebs. Seit 2003. Nierenkrebs lautete die Diagnose. Das Geschwür hat gestreut. Bauchspeicheldrüse, Lunge und Herz wurden befallen – und erfolgreich operiert. „Dafür sehe ich noch gut aus“, sagt Herchenbach lächelnd. Sechs schwere Operationen überstand er, die vorerst letzte vor zwei Jahren. Sein Oberkörper ist von langen, wulstigen Narben gezeichnet. „Ein Tumor hatte sich am Herzen gebildet. Es war fraglich, ob das überhaupt jemand macht. Das Herzzentrum Dresden lehnte den Eingriff ab. Das Risiko sei ihnen zu groß gewesen“, erinnert sich Herchenbach.

Im Leipziger Herzzentrum fand er einen syrischen Professor, der befand: kein Problem. „Ich habe versucht, die OP in die Sommerpause legen zu lassen, damit ich zum Saisonstart wieder auf dem Platz stehen kann“, erinnert sich der Patient. Hat nicht ganz geklappt. Drei Wochen musste der Vater einer Spielerin aushelfen.

Der Zustand des ehrenamtlichen Nachwuchstrainers ist seit dem letzten Eingriff ziemlich stabil. „Ich habe nur noch zwei Baustellen“, sagt Sven Herchenbach und tippt sich vorsichtig mit seinem Zeigefinger auf seine mächtige Brust. „Am Hilus – das kann nicht operativ entfernt werden, da der Tumor direkt an einer Hauptschlagader sitzt. Und am Darm“, sagt er. Die Metastasen bekämpft Herchenbach mit einer Tabletten-Chemotherapie. Montags, mittwochs und freitags geht er für jeweils fünf Stunden zur Dialyse. Gegen die entfernten Nebennieren nimmt Herchenbach Tabletten für den Hormonhaushalt. Da er nur mit der Hälfte seiner Bauchspeicheldrüse lebt, erkrankte der Micktener an Diabetes. Dennoch ist Sven Herchenbach keiner, der öffentlich sagen würde: Es reicht! „Ab und an hat man diese Phasen, die zeigt man aber nie nach außen. Und ja, man flennt auch mal als Mann“, erklärt Herchenbach, der seit 2010 als EU-Rentner gilt.

Mit Unterstützung vom Sozialamt und allem Drum und Dran lebt er auf Hartz-IV-Niveau. Seine Mutter wohnt ein Stockwerk über ihm, hilft, wo sie kann. Unzufrieden oder unglücklich wirkt Herchenbach dennoch nicht. „Meine Ärzte haben mir gesagt, es hilft, dass ich so viel auf Achse bin. Sie sagen mir, dass sie mit dieser Krankheit noch keinen gesehen haben, der so positiv durch das Leben geht wie ich.“

Durch sein Engagement bei den Fortuna-Kickerinnen zwingt sich der bullige Kerl, der als Sechsjähriger bei Motor TuR Übigau seine übersichtliche Fußballerkarriere begann, jeden Tag zum Aufstehen. „Ich brauche den Fußball: Es treibt mich an, wenn ich weiß, dass ich 17 Uhr auf dem Platz stehen muss. Ich muss raus. Wenn ich fehle, stehen zehn Mädels umsonst da“, betont der Trainer, der mit seinem sarkastischen Humor jedes Mitleid im Keim erstickt. Mag er nicht. Sein offener Umgang mit seinem Schicksal klingt erfrischend bis schmerzvoll. „Wenn mich einer fragt, warum mich auf der Straße eine 80-Jährige überholt, muss ich das ja erklären. Ich bin jetzt mal nach der Bahn gerannt“, sagt Herchenbach, „mache ich nie wieder.“

Es gibt sicherlich einige, die den knapp 1,90 Meter großen Trainer als schwierig beschreiben würden. Kantig, knurrig. Auch, weil er sein Herz auf der Zunge trägt. Wer sich täglich mit der eigenen Endlichkeit auseinandersetzt, muss vor niemandem kuschen. Seine B-Lizenz ruht, weil Herchenbach auch ein bisschen stur ist. Binnen drei Jahren müsste er 20 Stunden an Weiterbildungsmaßnahmen vorweisen. „Ich habe in den betreffenden Zeiträumen leider auf dem OP-Tisch gelegen oder war zu Rehamaßnahmen“, spöttelt er.

Der Stadtverband bot ihm an, die Maßnahmen nachzuholen. „Ich bin aber einer“, erklärt Herchenbach, „der weigert sich dann. Entweder verlängert man mir die Lizenz aufgrund meiner Verdienste oder man lässt es. Dazu gehört ja auch ein praktischer Teil. Da geht bei mir gar nichts. Ich weiß, was ich kann, das weiß auch der Verein“, beschließt er trotzig. Im August beendete er seine zehnjährige Tätigkeit als Staffelleiter beim Stadtverband.

Herchenbach war schon immer so konsequent, wenn ihm etwas nicht passte, hat nach dem Abitur und drei Jahren NVA noch in der DDR ein Lehramtsstudium für Mathe und Physik begonnen. Im dritten Semester kam die politische Wende dazwischen. „Die haben den Mist mit Kommunismus, Sozialismus aber weiter gelehrt. Da habe ich gesagt, ihr könnt mich mal. Ich wollte das irgendwann mal abschließen, habe es aber letztlich nicht gemacht.“

Stattdessen geriet sein Leben in einen Abwärtsstrudel. „Ich bin auf die schiefe Bahn geraten. Spielerei, Alkohol – ich war sogar eine Zeit lang obdachlos.“ Ihm gelang der Absprung – sieben Jahre arbeitet Herchenbach in München als Grafiker. Bis zur Diagnose. Seither setzt er sich kleine Ziele: Den 50. Geburtstag erleben – hat er geschafft. „Mein größerer Neffe Lukas ist jetzt drei. Ihn will ich zur Schuleinführung bringen.“ Wichtig. Überlebenswichtig.

 

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